Als er dreizehn Jahre alt war, erfuhr Walter Kohl, dass sein Leben gegen Geld aufzuwiegen war. In Zeiten des RAF-Terrorismus hatten die Sicherheitsbehörden das Lösegeld für den Fall der Entführung des Kanzlersohnes auf höchstens fünf Millionen Mark begrenzt. Und der Dreizehnjährige verstand nur eines: „Ich bin nicht wichtig. Mein Verlust ist kein Verlust“. Ein Gefühl, dass ihn im jungen Erwachsenenalter fast bis in den Suizid trieb. Erst nach Jahren der intensiven persönlichen Auseinandersetzung verstand…
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Jahren der intensiven persönlichen Auseinandersetzung verstand Walter Kohl, dass er nicht nur unter der Kindheit im Rampenlicht litt, sondern auch unter seiner speziellen Familienkonstellation. Sein Vater war ein politisches Alphatier, ein Narzisst, der seine Frau und Kinder zu Statisten seines politischen Lebens machte. „Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl“, schrieb der Sohn 2011 in seinem Buch Leben oder gelebt werden. „Wir liefen auf seiner politischen Bühne mit, als Teil des Bühnenbildes, aber ohne tragende Rolle.“
Wer als Kind eines Narzissten aufwächst, hat es oft schwer. Denn das, was gute Beziehungen zwischen Eltern und Kinder auszeichnet – bedingungslose Liebe und echte Zuneigung –, kommt in der Beziehung zwischen narzisstischen Eltern und ihren Söhnen und Töchtern zu kurz. Narzissten geht es in der Beziehung zu ihren Kindern meist um sich selbst, um die eigene Anerkennung, Bestätigung oder Spiegelung. Ihre Liebe ist also nicht selbstlos, sondern dient dem Zweck der Selbstliebe. Für die Kinder ist das ein Drama. Ihnen fehlt die empathische und nährende Liebe. Statt echter Empathie und vorbehaltloser Unterstützung erfahren sie oft Desinteresse oder lernen, dass sie nur dann Zuwendung und Anerkennung erhalten, wenn sie den Vorstellungen ihrer Eltern entsprechen. Ein Gefühl für sich selbst können sie dabei oft nicht gut entwickeln. Nicht selten trifft es die Kinder von prominenten Politikern oder Intellektuellen, die häufig von vornherein einen ausgeprägten Narzissmus mitbringen müssen, um überhaupt in derart gehobene Positionen gelangen zu können. Doch auch abseits des Rampenlichts finden sich viele Menschen mit schweren narzisstischen Störungen. Der Psychiater und Narzissmusforscher Claas-Hinrich Lammers glaubt, dass pathologische Narzissten in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.
Nicht jeder Narzisst fügt seinen Kindern Schaden zu
Schätzungen zufolge leidet weltweit etwa einer von hundert Menschen an einem krankhaft übersteigerten Narzissmus. Doch wann ist ein Mensch überhaupt ein pathologischer Narzisst – und wann kann dieser Charakterzug den eigenen Kindern Schaden zufügen? Ein positiver Narzissmus im Sinne einer guten Selbstliebe ist natürlich nicht krankheitswertig. Im Gegenteil, Menschen mit einem gesunden Narzissmus haben ein stabiles Selbstwertgefühl, können aber auch Rückschläge verkraften. Ihren Kindern gegenüber sind sie in der Regel liebevoll und zugewandt. Ein negativer Narzissmus hingegen basiert auf einem mangelhaften Selbstwertgefühl. Durch Gefühle der Grandiosität und ein gesteigertes Verlangen nach Bewunderung und Anerkennung versuchen die Betroffenen, ihr schwaches Selbstwertgefühl zu kompensieren. Auch das muss, je nach Ausprägung, für die Kinder noch keine gravierenden Folgen haben, solange die Betroffenen in der Lage sind, ihren Söhnen und Töchtern echte Liebe zu schenken.
Schwierig für die Kinder wird es allerdings, wenn Eltern narzisstisch gestört sind oder gar an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Der Übergang von einer stark ausgeprägten Persönlichkeitseigenschaft zu einer pathologischen Persönlichkeitsstörung kann fließend sein. In seinem Buch Die Narzissmusfalle zeigt der österreichische Psychiater Reinhard Haller, dass im Kern vier Charaktereigenschaften auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hinweisen: Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung. Die Betroffenen nehmen sich selbst als einzigartig wahr. An ihren Mitmenschen haben sie entweder kein Interesse oder überziehen sie mit hohen Erwartungen. In Beziehungen investieren sie nur, wenn es sich für sie lohnt: Oft benutzen sie ihre Partner oder Kinder als Erfüllungsgehilfen für die eigenen Wünsche. In dem Sinne stellen ihre Kinder also keine separaten Personen mit eigenen Bedürfnissen dar, sondern Erweiterungen ihrer selbst, die benutzt werden können, um eigene Ziele zu erreichen. Das gilt sowohl für Narzissten, die – wie Helmut Kohl – kein tieferes Interesse an ihren Kindern zeigen, als auch für Narzissten, die ihre Kinder benutzen, um sich selbst narzisstischen Gewinn zu verschaffen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Tenniseltern wie der Vater der ehemaligen Weltranglistenersten Jennifer Capriati, der auf die Kritik, seine Tochter zu jung in den Profitenniszirkus geschickt zu haben, lapidar antwortete: „Wenn der Apfel reif ist, iss ihn.“ In beiden Fällen – Desinteresse oder narzisstische Besetzung – wachsen die Kinder mit dem Bewusstsein auf, nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden.
Um die Kinder selbst geht es nie
In der Beziehungsgestaltung zu den Kindern kann der elterliche Narzissmus durchaus unterschiedliche Formen annehmen. Narzisstische Väter gehen häufig in erster Linie ihren Interessen nach und überlassen die Erziehung ihren Partnerinnen. In wichtigen Lebensfragen haben sie allerdings oft den Anspruch, das Kind zu führen, sprich ihm ihren Willen und ihre Vorstellungen aufzuzwingen. Denn der Narzisst möchte sich in seinem Kind widergespiegelt sehen. Ob dies den Bedürfnissen des Kindes entspricht, spielt für ihn keine Rolle. Gerade auf Söhnen lastet dabei oft ein besonderer Druck, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, ohne ihn dabei jedoch zu überflügeln – man denke dabei an die angepassten Söhne Donald Trumps, die stets in zweiter Reihe hinter ihrem Vater stehen und seit seiner Präsidentschaft nun das Firmenimperium verantworten dürfen. Narzisstische Mütter hingegen sind oft vermeintlich engagiert in der Kindeserziehung und legen Wert auf eine perfekte Fassade, zeigen ihren Kindern gegenüber aber tatsächlich wenig Wärme oder Einfühlungsvermögen. Die Kinder sind Mittel zum Zweck und dienen in erster Linie der Selbstdarstellung, der eigenen Bedürfnisbefriedigung oder der Aggressionsabfuhr. Auch hier gilt: Um die Kinder selbst geht es nie. „Mein Vater brauchte andere Menschen nur als Spiegel, um sein eigenes Abbild zu bewundern“, erinnert sich Allegra Curtis, die Tochter von Tony Curtis und Christine Kaufmann, zweier prominenter Eltern. „Seine Zahnschmerzen waren immer wichtiger als meine. Und je stärker ich seine Selbstbezogenheit spürte, desto verzweifelter buhlte ich um seine Aufmerksamkeit. Weil ich diesen Kampf immer wieder verlor, begann ich, mich wertlos zu fühlen.“
Die amerikanische Psychotherapeutin Karyl McBride ist spezialisiert auf Narzissmus und hat in ihrem Buch Werde ich jemals gut genug sein? verschiedene Typen naravagant-extrovertierte Mutter, welche die Welt als Bühne zur Selbstdarstellung begreift und deren Kinder ein Dasein am Rande ihres Blickfeldes fristen. Die leistungsorientierte Mutter, die von ihren Kindern grzisstischer Mütter identifiziert. Sie beschreibt die extrößtmöglichen Einsatz fordert und gern mit den Erfolgen ihrer Kinder prahlt – und wütend reagiert, wenn die Kinder sich verweigern. Die psychosomatisierende Mutter, die durch Migräne oder andere Krankheiten immer wieder Aufmerksamkeit auf sich zieht und ihre Familie manipuliert, ohne sich um deren Bedürfnisse zu scheren. Die süchtige Mutter, die ausschließlich auf sich selbst und ihre Sucht fixiert ist und die Kinder dabei aus dem Blickfeld verliert. Die insgeheim gemeine Mutter, die nach außen hin freundlich und liebevoll ist, ihre Kinder zu Hause aber ignoriert, abwertet oder als Mülleimer für den eigenen Frust und die eigenen Aggressionen benutzt. Und schließlich die emotional bedürftige Mutter, die ihre Bedürftigkeit offen zur Schau trägt und von ihren Kindern erwartet, sich um ihre Probleme zu kümmern – quasi im Sinne eines Rollenwechsels.
Achte auf meine Bedürfnisse – deine zählen nicht!
Für die Kinder kann das schwerwiegende Folgen haben. Ihre Sehnsucht nach authentischer Wärme und Zuwendung bleibt unbeantwortet, sie spüren, dass sie nicht um ihrer selbst willen geliebt werden. Für sie gibt es keinen antwortenden elterlichen Spiegel, der ihnen eine echte positive Rückmeldung gibt; kaum verwunderlich, dass viele Kinder von Narzissten sich in ihrer Kindheit „unsichtbar“ fühlen. Stattdessen lernen sie, sich den komplexen und bisweilen undurchschaubaren Anforderungen ihrer Eltern unterzuordnen. Sie sollen großartig sein, dürfen aber nicht großartiger als ihre Eltern sein. Sie sollen selbständig und autonom sein, aber nicht zu selbstständig und autonom. Sie sollen alles können, dürfen dafür aber nicht alles fordern. Ständig müssen sie ihre Antennen ausfahren und auf die Bedürfnisse ihrer Eltern achten, um sich deren Anerkennung zu sichern. Sie entwickeln hohe Ansprüche an sich, denen sie aber nie gerecht werden können. Ihr Selbstwert bleibt brüchig. Problematisch daran ist auch, dass die Kinder so nur sehr schlecht lernen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen. Sind die Eltern mehr auf sich als auf ihr Kind fixiert, wird es für das Kind viel schwerer, seine Emotionen richtig zu spüren und auszudrücken. Stattdessen bleibt es auf die Gefühle der Eltern konzentriert. „Wir Töchter narzisstischer Mütter glauben, wir müssten für unsere Mütter da sein und es sei unsere Aufgabe, uns um ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zu kümmern, schon als junge Mädchen“, schreibt Karyl McBride. „Wir fürchten, unseren Müttern andernfalls gleichgültig zu sein.“
Wenn Vater oder Mutter eine narzisstische Persönlichkeitsstörung aufweisen, spüren die Kinder oft noch im Erwachsenenalter die Folgen ihrer belastenden frühen Beziehungserfahrungen. Das Leid setze sich fort, erklärt McBride. Ihrer Erfahrung nach leiden viele Kinder von Narzissten als Erwachsene unter Selbstwertproblemen, Verlustängsten, Depressionen und Beziehungsproblemen. Oft haben sie schwache Ich-Grenzen, können sich also nicht gut von den Gefühlen anderer Menschen abgrenzen – kein Wunder, schließlich war gerade diese Fähigkeit in ihrer Kindheit von größter Wichtigkeit. Manchmal jedoch kann diese seelische Durchlässigkeit auch von Vorteil sein. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, Autor das Buches Die narzisstische Gesellschaft, war selbst das Kind einer narzisstischen Mutter und glaubt, dass gerade diese erhöhte Sensibilität für andere später entscheidend für die Wahl seines Berufes war. „Ich war ein glückliches Kind, bis ich merkte, dass ich meine eigenen Bedürfnisse nicht verwirklichen konnte, dass ich immer nur für meine Mutter da war“, erklärt er, „aber dadurch habe ich gelernt, gut zuzuhören, mich in andere hineinzuversetzen, das hat mich, denke ich, zu einem guten Psychotherapeuten werden lassen. Die Muttervergiftung ist also von Vorteil, aber wenn ich es nicht verstanden hätte, mich nicht hätte entfernen können, hätte ich nicht so viele Jahre meine Arbeit machen können.“
Paradoxerweise können auch die Kinder von Narzissten eine narzisstische Störung entwickeln. Gerade in distanzierten oder abwertenden Familienverhältnissen entwickeln sich narzisstische Verhaltensweisen oft als Selbstschutz vor negativen Emotionen oder Zurückweisung. Ein Defizit an Zuwendung und Liebe kann einen Überschuss an Selbstliebe bewirken. Aber nicht nur ein Zuwenig an Anerkennung begünstigt die Entstehung von pathologischem Narzissmus – sondern auch ein Zuviel. Der Narzissmusforscher Otto Kernberg etwa sieht die Ursache narzisstischer Störungen nicht in früh erlittenen Frustrationen und Entbehrungen des Kindes, sondern in dessen Ausbeutung als narzisstisches Objekt der Eltern. Werden Kinder von ihren narzisstischen Eltern als etwas ganz Besonderes gehandelt, etwa aufgrund ihrer musikalischen Fähigkeiten, sportlichen Talente oder akademischen Leistungen, entsteht bei ihnen ein unrealistisch erhöhtes, auf Lob und Bewunderung gestütztes Selbstbild. Frustration können sie nicht gut ertragen. Sie lernen, dass Beziehungen ausbeuterisch sind, und werden, um dieser zerstörerischen Beziehungsdynamik auszuweichen, im Erwachsenenalter selbst zu emotionalen Ausbeutern, zu Menschen also, denen es in Partnerschaften und Beziehungen in erster Linie um sich selbst geht. Und so kann der Narzissmus von Generation zu Generation weitergereicht werden. „Wir müssen selbst erst einmal geliebt worden sein, um lieben zu können“, schrieb der Psychoanalytiker Fritz Riemann in seinem großartigen Buch Die Fähigkeit zu lieben. „Wer das in seiner Kindheit nie oder zu wenig erfahren hat, für den ist es um so vieles schwerer, lieben zu lernen, denn er müsste ja etwas geben, was er nie empfangen hat.“
Viele Kinder von Narzissten wählen Karyl McBride zufolge zunächst den Weg der Höchstleistungen oder der Selbstsabotage, um mit ihrem brüchigen Selbstwertgefühl umgehen zu können. Im Studium oder im Job geben sie alles, oft zum Preis von chronischer Erschöpfung, Burnout oder Essstörungen. Oder sie verweigern sich, resignieren, gleiten in Sucht und Depressionen ab. „Wenn wir keine leistungsorientierten Überfliegerinnen werden, um unserer Mutter zu beweisen, was wir können, entscheiden wir uns für den gegenteiligen Weg, indem wir unsere Wut gegen uns selbst richten und uns selbst sabotieren“, erklärt McBride. „Damit sagen wir im Grunde zu ihr: Siehst du? Ich beweise gerade, dass ich nicht sein kann, was du von mir erwartest!“ Auch die Wahl der Partner sei häufig geprägt von den Kindheitserfahrungen. So wählten die Kinder narzisstischer Eltern oft Partner, die ihre emotionalen Bedürfnisse ebenfalls nicht erfüllen könnten oder für die sie sorgen müssten – weil gerade diese Beziehungsdynamik ihnen vertraut ist.
Manchmal hilft nur eine Trennung von den Eltern
Und doch gibt es Strategien, um die narzisstischen Beziehungserfahrungen zu verarbeiten und mit dem frühen Trauma besser umgehen zu lernen. Wichtig ist, sich innerlich von dem narzisstischen Elternteil zu verabschieden – also die Hoffnung aufzugeben, dass Mutter oder Vater jemals echte Liebe oder Empathie zeigen werden. Leichter gesagt als getan. Wer das jedoch verstanden hat, kann endlich trauern um die Eltern, die er nie hatte. Manchmal ist dafür auch die Trennung von den Eltern hilfreich. Die britische Autorin Danu Morrigan, Tochter einer schwer narzisstischen Mutter, wählte am Ende diese Option. „Jahrelang haben meine Eltern mir eingeredet, dass ich das Problem habe“, erklärt sie in ihrem Blog. „Aber das ist nicht wahr, sie waren das Problem. Ohne sie bin ich glücklicher. Heute geht’s mir gut!“
Literatur
Nina W. Brown: Kinder egozentrischer Eltern. Eine Kindheit mit narzisstischen Eltern bewältigen. Junfermann, Paderborn 2010
Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle. Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis. Ecowin, Salzburg 2013
Walter Kohl: Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg zur Versöhnung. Heyne, München 2013
Karyl McBride: Werde ich jemals gut genug sein? Heilung für Töchter narzisstischer Mütter. Probst, Lichtenau 2017
Fritz Riemann: Die Fähigkeit zu lieben. Ernst Reinhardt, München 2013